Es ist unheimlich wichtig, sich auf geplante neue Situationen vorzubereiten. Ein wichtiges Hilfsmittel sind sicherlich Bücher zum Thema. Während der Schwangerschaft werden schon die ersten Erziehungsratgeber gelesen und Mütterforen zu verschiedenen Fragestellungen durchforstet. So bildet man sich eine Meinung zu Brust vs. Fläschchen, Kinderwagen bzw. Tragetuch und vielerlei mehr. Es ist ja auch wichtig, sich im Vorfeld zu überlegen, wie man gewisse Dinge organisieren möchte. Aber alle Eltern werden wissen: kein Erziehungsratgeber bereitet einen auf die Realität und den Schlafmangel vor.
Bevor jemand neu auf das Missionsfeld reist, darf bzw. muss sich ein Missionskandidat ebenfalls viel Literatur zu Gemüte führen: über die neue Kultur, den Islam und verschiedene andere Themen. Wahrscheinlich wird der Kandidat dann noch Wikipedia und „Gebet für die Welt“ nach spezifischen Informationen zu seinem Land durchforsten. Und all das ist richtig und wichtig. Aber dieses Wissen bereitet einen nicht viel besser auf die afrikanische Realität vor als die Bücher, die einen auf das Elternsein vorbereiten sollen.
Die ersten Eindrücke auf afrikanischem Boden sind intensiv. Es ist schwül-heiß (jedenfalls in Conakry), laut und bunt, die Gerüche eine Mischung aus allem möglichem. Setzt man einen Fuß vor die Tür, erinnern einen die Kinder mit Rufen in ihrer jeweiligen Sprache daran, dass man weiß ist (falls man das vergessen haben sollte). Das Wissen darüber ist nett, aber man muss das selbst erlebt haben. Die gegoogelten Fotos und die Filmchen, die man auf YouTube angesehen hat, geben einen nur kleinen Eindruck der Realität wieder.
Es ist wichtig zu wissen, dass Muslime fünf Mal am Tag beten. Aber wenn der Muezzin der Moschee nebenan um 5 Uhr morgens zum Gebet ruft, dann wird einem bewusst, warum Ohropax auf der Packliste stand. Man sollte auf jeden Fall Kenntnisse über die Gastkultur haben. Das bewahrt einen davor, andere bloßzustellen oder zu verletzen, aber auch selbst verletzt oder enttäuscht zu werden (wobei das nie ganz ausbleibt). So könnte man sich eine Liste mit Verhaltensregeln schreiben:
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- Schaue keinem (insbesondere Menschen des anderen Geschlechts) direkt in die Augen!
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- Gib niemals etwas mit der linken Hand!
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- Wenn Du jemandem etwas für ihn Negatives sagen willst, rede fünf Mal um den heißen Brei und verpacke die unangenehme Wahrheit möglichst schön!
Diese Liste ließe sich noch ewig fortsetzen. Und diese Verhaltensrichtlinien sind alle richtig und wichtig. Es geht jedoch um mehr als das bloße Abarbeiten eines Verhaltenskataloges. Reines Wissen nützt nicht viel, auch wenn oberflächlich alles korrekt ist. Wenn ich nur Angst habe, etwas falsch zu machen und ständig verunsichert bin, dann ist nicht viel gewonnen. Denn:
Wenn ich in allen lokalen Sprachen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich alle kulturellen Geheimnisse und Erkenntnisse wüsste und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze (frei nach 1. Kor 13, 1-4 LUT).
Ousmane und ich haben vor einigen Jahren einen Kollegen im Landesinneren besucht. Als wir mit ihm zu Fuß unterwegs waren, trafen wir unterwegs einige alte Peul-Männer, die unser Kollege gut kannte. Bei den Peul ist der Respekt der Älteren enorm wichtig, allerdings gibt es auch bestimmte Situationen, in denen man sie necken kann. Und das ist für einen Porto (wie die Weißen auf Pular heißen) nicht immer leicht rauszukriegen. Unser Kollege hat diese älteren Herren also geneckt und aufgezogen. Hinterher sagte Ousmane mir, dass das so nicht angebracht gewesen wäre und er so eigentlich nicht hätte mit diesen Männern reden dürfen. Es war ziemlich unhöflich, aber: alle haben gemeinsam gelacht und keiner hat ihm das übel genommen. Warum? Weil man unserem Kollegen die Liebe abspürte, die er für die Bevölkerung in seinem kleinen Städtchen hatte. Und die Liebe redet lauter als jede pingelig befolgte Verhaltensregel (was natürlich nicht heißt, dass man einfach alles über Bord werfen darf).
Ob man mir die Liebe abspürt, weiß ich nicht. Aber viele sagen mir, dass ich die Liebe zu Land und Leuten darin bewiesen habe, einen der ihren geheiratet zu haben😉 Das ist auch kein Freibrief, um kulturelle Konventionen zu übergehen und teilweise werden bei mir auch höhere Maßstäbe angelegt als bei anderen weißen Kollegen; schließlich bin ich ja praktisch schon halb Guineerin. Ich hoffe, dass meine Kulturkenntnisse mich vor allzu großen Fettnäpfchen bewahren und ich bete, dass Gottes Liebe durch mich zu den Guineern fließt.
Gitte